TQW Magazin
Susana Ojeda über Exótica von Amanda Piña / nadaproductions

Eine Zeremonie für dekoloniale Gerechtigkeit

 

Eine Zeremonie für dekoloniale Gerechtigkeit

Rauch und der Geruch von Copal erfüllen den Raum. Mein Körper erinnert sich an andere Momente der Reinigung und Heilung. Die Begrüßungen und Gespräche derer, die den Raum betreten, mischen sich mit tropischem Vogelgesang. Zwei Altäre werden errichtet, einer gegenüber dem anderen. Menschen, nicht-menschliche Wesen und Mehr-als-Menschen sind in diesem Raum anwesend, denke ich. Amanda Piña begrüßt ihre Vorfahrin Clemencia Piña, deren Foto auf einem der Altäre steht, prostet ihr zu, sieht dann zu uns und lädt uns ein, mitzumachen. Ich nehme einen kleinen Hämatit aus meiner Hosentasche in meine linke Hand. Ich schließe die Augen und lasse mich von Piñas Stimme leiten, um meine Ahn*innen in diesen Raum einzuladen. Wir sind gegenwärtig.

Der Tanz als Spektakel wird in einen rituellen Tanz umgewandelt, an dem wir alle teilnehmen sollen. Es ist ein radikal dekolonialer Vorschlag. Dekoloniale Ästhetik beginnt mit dem, was westliche Kunst und Ästhetik implizit verbergen: der kolonialen Wunde.

Die moderne westliche Kultur fragmentiert Lebenserfahrungen, Wissen, Gefühle und trennt in Dichotomien, Natur und Kultur, Selbst und Anderes, Wissenschaft und Kunst, Leben und Tod. In vielen anderen Kulturen ist die Interkonnektivität jedoch ständig präsent, sodass Kunst und Tanz Teil des Lebens und des Todes sind, der Art und Weise, wie wechselseitige Beziehungen zu anderen Lebewesen hergestellt werden und ein kollektives Gedächtnis aufgebaut wird.

In Exótica sind wir Teil eines Rituals, das die Vorfahr*innen of Color des europäischen Tanzes, die bei der kolonialen Konstruktion von dessen Geschichte ausgelöscht wurden, wieder lebendig werden lässt. Und in diesem Prozess der kollektiven Erinnerung beginnen wir die koloniale Wunde zu heilen, die in der zeitgenössischen Tanzszene reproduziert wird, in der sowohl die Regeln der künstlerischen Praxis als auch die Regeln der Sinnsuche aus derselben Perspektive konstruiert werden, die von Universalität träumt. Aus diesem kolonialen Blickwinkel werden immer wieder dieselben Bewegungen und unzusammenhängenden Beziehungen wiederholt, dieselben Themen diktiert. Unter diesem Gesichtspunkt werden andere Formen des Tanzes, andere Geschichten, andere Körper, andere Tänze weiterhin disqualifiziert.

Clemencia Piña „La Sarabia“, Nyota Inyoka, François „Féral“ Benga und Leila Bederkhan werden durch die Vermittlung der Körper der Tänzer*innen präsent und verbinden uns mit Formen des Widerstands inmitten zutiefst rassistischer Kontexte. Diese Künstler*innen, die in den 1920er-Jahren berühmt wurden, lebten in Europa, wo zur gleichen Zeit „Menschenzoos“ gezeigt wurden. Unter diesem kolonialen Blick, der „die*den Anderen“ als beherrscht, subaltern und wild konstruierte, wurden die Körper unserer Vorfahr*innen und ihre Tänze als exotisch eingestuft. Diese Darstellung diente den Weißen dazu, ihr eigenes Bild von der Ästhetik des Tanzes zu konstruieren, in dessen Kanon die von BIPoC-Künstler*innen geschaffenen Tänze nicht passten.

Die Subversion dieser Künstler*innen inmitten des vorherrschenden Rassismus bestand darin, sich den exotisierenden Blick zu eigen zu machen. In diesem Gestus schufen sie Alter Egos, Avatare, die es ihnen ermöglichten, ihre künstlerischen Praktiken zu entwickeln. Die Verbindung mit anderen Arten des Seins, des Sehens, des Wissens und des Fühlens der Welt konnte gelingen.

Zu den Klängen einer Flöte spielen die verschlungenen Arme von Nyota Inyoka mit dem ihr auferlegten Stereotyp der Prinzessin des Ostens, um mit von indischen Tänzen inspirierten Bewegungen die Bilder zu verkörpern, die sie in ihren Träumen entdeckt. „Nyota“ „Inyoka“, was auf Suaheli „Stern“ und „Schlange“ bedeutet, ist der von der Künstlerin, Tänzerin und Choreografin sorgfältig geschaffene Avatar.

Die mystische Erscheinung von François „Féral“ Benga verbindet mich mit der Freude am Tanz, mein Körper beginnt sich zum Klang der Trommeln zu bewegen, uralte Klänge vergangener und gegenwärtiger Widerstände ertönen im Raum. Bilder von Wesen, die mehr-als-menschlich sind, werden präsent. Benga, von der Presse als „schwarzer Merkur“, „schöner schwarzer Adonis“, „schwarzer Star“ bezeichnet, macht sich die Objektivierung des weißen Blicks, der ihn zwingt, Afrika zu repräsentieren, zu eigen und nennt sich selbst „Féral“, also „Wilder“. So wie es die „Maricas“ in Lateinamerika heute in ihrem dekolonialen Kampf tun, um den homophoben und stereotypen Diskursen über ihre Körper entgegenzuwirken. Dieser Künstler, Choreograf, Anthropologe, Schauspieler und Dichter, der als Vorbild der Avantgarde, als Schwulen-, Tanz- und Modeikone gilt, findet einen Weg, seine Kunst inmitten rassistischer Unterdrückung zu befreien.

Mein Körper wird von Cumbia-Klängen begleitet, während „La Sarabia“ sich mit vom Flamenco inspirierten Bewegungen bemerkbar macht. Ich denke/spüre, wie ich das Vermächtnis der Kolonisierten und der Kolonisator*innen mit mir trage. Während Ángela Muñoz Martínez und Amanda Piña der Anwesenheit von Clemencia Piña im Raum danken, nehme ich mir Zeit, um mich mit meinen Vorfahr*innen zu verbinden, um zu danken und zu vergeben.

In diesem Zustand erreicht mich die verletzliche Zärtlichkeit von iSaAc, von der aus sich mir Leila Bederkhan nähert, die Künstlerin, die Femme, die Verführerin. Auch Bederkhan spielt mit dem kolonisierenden Blick und präsentiert sich als Prinzessin, als die sie transgressive Tanzpraktiken entwickelt.

Ángela Muñoz Martínez, Zora Snake, Venuri Perera, iSaAc Espinoza Hidrobo und Amanda Piña erlauben uns, in der Gegenwart der tanzenden Vorfahr*innen zu sein, die wir an diesem Abend ehren. Auf einer weiteren Ebene lassen sie uns den intimen Gesprächen lauschen, die sie miteinander führen. Wir entdecken, wie in diesen Dialogen die kolonialen Kontinuitäten immer präsent sind, in der Erfahrung Brauner Körper in einem europäischen Kontext, im exotisierenden Blick des weißen Publikums, in rassistischen Erfahrungen im Alltag, in den stereotyp zugewiesenen Rollen. Die Beziehungen von Freundschaft, Gegenseitigkeit, Dankbarkeit und Liebe, die die Tänzer*innen zu ihren Vorfahr*innen aufbauen, werden von diesen Gemeinsamkeiten gekreuzt. Die besonderen Praktiken, die jede*r von ihnen entwickelt, um auf der zeitgenössischen Bühne Klänge und Bewegungen zu präsentieren, destabilisieren den engen Rahmen der monokulturellen Analyse und stellen den weißen Blick, der sie exotisiert, infrage.

Wir schließen diesen zeremoniellen Tanz kollektiv ab, wir nehmen an einer Trance teil, in der die Tänzer*innen, geleitet von einem von Amanda Piña kreierten und gesungenen Lied, die mehr-als-menschlichen Ahn*innen Quetzalcóatl, die gefiederte Schlange, anrufen. Piña lädt uns ein, unsere Wahrnehmung wie die Schlange zu erweitern. Ich bewege meine Augen von einer Seite zur anderen, ich spüre, wie sich mein Blick erweitert. Ich bewege meine Zunge hin und her, ich spüre, wie sich meine Wahrnehmung erweitert.
Ein letztes Gebet für Heilung:

 

„[…] Göttin der Schlange aller Flüsse,
befreie uns vom wilden Kapitalismus
erlaube uns, ihm zu widerstehen,
verwandle ihn, verwandle uns,
verändere unsere Haut, verändere unsere Haut.

Heile die Brüder und Schwestern, die rassifiziert wurden,
die verfolgt werden,
die vertrieben werden,
von denjenigen, die sie rassifizieren, die sie extrahieren,
institutionelle Gewalt des Todes,
die die Körper lebendig auffrisst,
und sie leer ausstößt.

Lass uns nicht vertrieben werden,
vergessen, entleert,
gib uns Leben, gib uns Tanz […]“

Am Ende sahen ich und meine dekolonialen Mitstreiterinnen Lia Kastiyo-Spinósa, Imayna Cáceres und Cara Bobadilla uns aufgeregt an. Unser Applaus der Dankbarkeit schließt sich dem Applaus des ganzen Saals an, der diesen Raum nicht verlassen zu wollen scheint, in dem wir Teil eines Akts tiefgreifender Überschreitung waren, eines Akts der Gerechtigkeit und der Wiedergutmachung, einer Praxis der kollektiven Heilung der kolonialen Wunde durch den „orgasmisch lustvollen Widerstand des Fühlens“.

 

 

Susana Ojeda ist eine kolumbianische Anthropologin, Filmemacherin und Aktivistin und lebt in Wien. Seit 2011 macht sie mit ihrer Produktionsfirma estudio elgozo unabhängige Kurzfilme und visuelle Dokumentationen von künstlerischen Projekten, Aktivismus und sozialen Prozessen. Seit 2023 ist sie Vorstandsmitglied der VBKÖ.

 

 
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